Dieses Flugblatt wurde in der aktuellen oder einer älteren Version auf verschiedenen Demonstrationen, Kundgebungen und Diskussionen in deutschen Städten verteilt.
Eine von uns dokumentierte ausführlichere Analyse der revolutionär-demokratischen Bewegung in Hongkong findet sich hier:
https://plot-point.org/2020/02/04/retake-hong-kong-revolution-of-our-time/
Bereits Monate hält in Hongkong die größte politische Bewegung seit den Protesten gegen das Tian’anmen-Massaker 1989 an. Nachdem sich die Hongkonger Bevölkerung schon 2014 in den sogenannten „Umbrella Protests“ gegen die Bestimmung von Kandidaten zur Wahl des Verwaltungschefs durch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wehrte, löste im Sommer 2019 ein weiterer Versuch, die innere Unabhängigkeit Hongkongs auszuhöhlen, Widerstand aus. Ein „Auslieferungsgesetz“ sollte juristische Prozesse unter die politische Kontrolle der KPCh bringen und die Deportation Gefangener in Chinas Arbeitslager und Folterknäste erleichtern. Die Bevölkerung Hongkongs erkannte das Gesetz als den Versuch, das relativ unabhängige Justizsystem Hongkongs unter die Kontrolle der KPCh zu bringen und damit als unmittelbare Bedrohung ihrer politischen und rechtlichen Freiheit.
Unter der einstigen britischen Kolonialherrschaft hat sich in Hongkong ein liberal-demokratischer Privatkapitalismus entwickelt, der es heutzutage noch für Investitionen westlichen Kapitals interessant macht. 70 Prozent des an der Börse von Hongkong gehandelten Kapitals fließt nach China; ihm dient Hongkong entsprechend als Umschlagplatz für Kapital. Da die liberale Ordnung allerdings mit der eigenen Herrschaft als Apparatschicks einer staatskapitalistischen Despotie unvereinbar ist, bemüht sich die chinesische Führung ihre Macht gegenüber der herrschenden privatkapitalistisch-liberalen Klasse aus Hongkong beständig auszudehnen. Der totalitären Natur ihrer Herrschaft entsprechend handelt es sich dabei um einen Kampf an allen Fronten. U.a. soll die relative kulturelle Eigenständigkeit Hongkongs zurückgedrängt werden, und durch ihr Vertretungsbüro verfügt die KPCh seit einiger Zeit über Anleihen für „patriotische“ Unternehmen und loyale Kandidaten in Politik und Führungsetagen der Wirtschaft.
Im August ordnete die chinesische Regierung die Hongkonger Fluggesellschaft „Cathay Pacific“ an, Angestellte, die an den Demonstrationen in Hongkong teilgenommen haben, nicht mehr an Bord auf Flüge nach oder über China zu lassen. Die Airline musste sich fügen, da sie ökonomisch von diesen Routen abhängt, und hat bereits damit begonnen, einen Teil seines Bordpersonals zu entlassen. Die chinesische Führung — im Gegensatz zur Außenpolitik Trumps oder der Europäer — betrachtet ökonomische als politische Mittel und nutzt jeden Hebel, um Druck auf Oppositionelle auszuüben und ihre Macht auszubauen. Die Hongkonger Arbeiter wiederum riskieren bereitwillig Job und Einkommen, deren Verlust für sie einen Teil der Kriegskosten gegen das Kapital bildet: „Manche Kollegen hätten ihm gesagt, die Sache, um die sie kämpften, sei wichtiger als ihr Job. ‚Sie sagen, das sei ein Krieg‘, sagte der Pilot.“ (FAZ, 13.08.19)
Zu einem solchen Krieg gegen die chinesische staatskapitalistische Despotie haben sich Segmente der Lohnarbeiterklasse mit der privatkapitalistischen, liberalen Fraktion der Hongkonger Bourgeoisie verbündet, um Demokratie und politische Unabhängigkeit — ihnen gemeinsame Interessen — zu verteidigen. Nach monatelang anhaltenden, riesigen Protesten wurde das geplante Auslieferungsgesetz zwar zurückgezogen, doch die fünf Forderungen der Hongkonger richteten sich darüber hinaus längst auf die Einführung hinreichender Mechanismen zur Blockade und Eindämmung der Fortschritte, die die chinesische Konterrevolution in den vergangenen Jahren bereits erreichen konnte.
Vollständige Rücknahme des Auslieferungsgesetzes (was mittlerweile geschehen ist), unabhängige Untersuchung der Polizeibrutalität, Amnestie für alle bei den Protesten Verhafteten, Verzicht auf die Charakterisierung der Proteste als „Krawall“ und allgemeine und direkte Wahlen. Demokratische Freiheiten kann die chinesische Führung, deren Herrschaft auf der diktatorischen Fesselung der gesellschaftlichen Produktivkräfte beruht, allerdings nicht zulassen. Der Kommunismus der KPCh ist ein Pseudo-Kommunismus, eine Diktatur der Partei über die große Masse der chinesischen Gesellschaft, über das Proletariat und die Bauern. Die Kader der Partei haben nicht nur die Kommandogewalt in Staat und Wirtschaft monopolisiert, sondern in ihren Händen auch großen Reichtum angehäuft. Um den „kommunistischen“ Schein aufrechtzuerhalten, kommt es immer wieder zu Verurteilungen einzelner Kader wegen „Bereicherung“ und „Korruption“. Gleichzeitig ist die Verurteilung einzelner Sündenböcke ein Mittel in den Machtkämpfen innerhalb der herrschenden Klasse.
Ein Nachgeben gegenüber der Hongkonger Protestbewegung würde diese zum Vorbild für Klassenkämpfe im eigenen Land werden lassen, welche schon jetzt ständig u.a. aufgrund der Korruption, Umweltzerstörung, Diktatur und Überwachung, desolaten Arbeitsbedingungen und Bezahlung eruptieren und die wie überall in den Despotien östlicher Prägung zunächst demokratische Kämpfe sind. Das Wirtschaftswachstum, mit dem die KP wesentlich ihre Diktatur legitimiert, steht außerdem auf tönernen Füßen. Das Land ist stark verschuldet und sucht sich durch Export seiner Verschuldung vor der Krise zu retten. Dass diese Krisenlösung auf Dauer funktionieren kann, ist äußerst zweifelhaft, weshalb die KP besonders dringend darauf angewiesen ist, jeden Widerstand im Keim zu ersticken. In Hongkong reagierte sie daher auf zunächst weitgehend friedliche Massenproteste mit brutaler Gewalt.
In das Bündnis der Hongkonger Lohnarbeiterklasse mit der liberalkapitalistischen Bourgeoisie konnte jedoch, trotz aller Versuche, kein Keil getrieben werden. Nach der beispiellos mutigen Besetzung der Polytechnischen Universität und dem Sieg in den Bezirksratswahlen hat die revolutionäre Bewegung in Hongkong ihren Höhepunkt erreicht. Weil die fünf Forderungen ohne eine volle Unabhängigkeit Hongkongs von der Volksrepublik unmöglich sind, und weil die KP eine solche Unabhängigkeit nicht mit ihrer Existenz vereinbaren kann, fällt die Erfüllung der Forderungen letztlich mit dem gegenwärtigen Ziel der Revolution in ganz China zusammen: Sturz der kommunistischen Partei. In Hongkong und China tobt der Krieg gegen den modernisierten Bourgeoisterrorismus, die ruchloseste Unterjochung aller Klassen der Gesellschaft unter die despotische Gewalt der KPCh. Ein Sieg in diesem Krieg ist Voraussetzung für die Emanzipation des Proletariats.
Im „Westen“ stützt das Interesse am chinesischen Markt und an chinesischen Investitionen sowie die varia-tenreiche Apologie des chinesischen Staatskapitalismus durch linke Peking-Claquere die Respektabilität der in China Herrschenden. Hiesige Linke sympathisieren entweder offen mit dem Herrschaftsmodell der KPCh, wie die niederträchtigen Autoren der „konkret“, die bloß die Propaganda der KPCh wiederkäuen, oder sie verhalten sich gegenüber den verschiedenen Formen der kapitalistischen Produktionsweise, mit denen unterschiedliche Bedingungen der politischen Assoziation und Organisation einhergehen, und deren Unterschiede für die Perspektiven des Klassenkampfs des Proletariats entscheidend sind, indifferent. Gegenüber China und seinem Umgang mit der Protestbewegung verhält sich „der Westen“ im allgemeinen so opportunistisch wie gegenüber Russland und dessen Annexion der Krim; und auch in Russland protestieren zuletzt Zehntausende für unabhängige regionale Wahlen. Damit das von China ökonomisch angeführte geopolitische Lager der globalen Konterrevolution geschwächt und das Lager der Revolution gestärkt wird — weil der aktuelle Hongkonger Protest das demokratisch-liberale Terrain verteidigt, auf dem eine kommunistische Revolution am wahrscheinlichsten ist — wünschen wir den Demonstranten beim Kampf gegen die Autokraten und für demokratische Freiheiten gutes und vollumfängliches Gelingen!